Die Rolle der kurzkettigen Fettsäuren bei MS-Fatigue: Energie aus dem Darm


Menschen mit Multipler Sklerose (MS) leiden häufig unter einer tiefgreifenden Erschöpfung, der sogenannten Fatigue. Neben neurologischen und hormonellen Ursachen rückt zunehmend ein weiterer Faktor in den Fokus der Forschung: die Darmflora – und mit ihr die kurzkettigen Fettsäuren (SCFAs), die von Darmbakterien gebildet werden.
Diese kleinen Moleküle haben erstaunlich große Wirkungen auf Gehirn, Immunsystem, HPA-Achse und Energiehaushalt.


Was sind kurzkettige Fettsäuren (SCFAs)?

Kurzkettige Fettsäuren wie Butyrat, Propionat und Acetat entstehen, wenn Darmbakterien Ballaststoffe fermentieren.
Sie dienen nicht nur als Energiequelle für die Darmzellen, sondern wirken als Botenstoffe zwischen Darm, Immunsystem und Gehirn.

  • Butyrat unterstützt die Regeneration der Darmschleimhaut und stabilisiert Barrieren
  • Propionat wirkt stark immunmodulierend und entzündungshemmend
  • Acetat dient als universeller Energieträger und Neurotransmitter-Vorläufer

Damit bilden SCFAs eine entscheidende Schnittstelle zwischen Ernährung, Immunsystem und Nervensystem – und genau hier liegt ihre Bedeutung für Fatigue und die HPA-Achse.


1. SCFAs und die HPA-Achse – Balance im Stresssystem

Die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren-Achse (HPA-Achse) steuert die Stressantwort des Körpers.
Ein gestörtes Mikrobiom – etwa durch Antibiotika, unzureichende Ballaststoffzufuhr oder chronischen Stress – kann zu niedrigeren SCFA-Spiegeln führen. Studien zeigen:

  • Butyrat dämpft überaktive Stressreaktionen, indem es die Ausschüttung von CRH und ACTH reguliert.
  • Propionat moduliert die Stressantwort über vagale Signale und kann die Cortisolsekretion harmonisieren.

Eine stabile SCFA-Produktion hilft, den circadianen Cortisolrhythmus zu stabilisieren.

Kurz gesagt: SCFAs wirken wie ein Puffer im Stresssystem – sie helfen, die Stressachse flexibel und widerstandsfähig zu halten.

2. Propionsäure – der immunmodulierende Schlüssel bei MS

Unter den SCFAs hat Propionsäure (Propionat) eine besonders starke Verbindung zur Multiplen Sklerose.
Mehrere Studien der Universität Bochum (u. a. Duscha et al., Cell Reports 2020) konnten zeigen:

  • Propionat erhöht die Zahl und Funktion regulatorischer T-Zellen (Tregs), die das Immunsystem beruhigen.
  • Gleichzeitig hemmt es proinflammatorische T-Helferzellen (Th17), die bei MS überaktiv sind.
  • Die regelmäßige Einnahme von Propionsäure (z. B. als Natriumpropionat) führte in klinischen Beobachtungen zu weniger Schüben und geringerer Krankheitsaktivität.
  • Zudem stabilisiert Propionat die Darmbarriere und unterstützt die Mikrobiomdiversität, wodurch weniger entzündliche Signale ins ZNS gelangen.

Diese immunregulatorische Wirkung erklärt, warum Propionat derzeit als ergänzende Therapieoption bei MS diskutiert wird – insbesondere im Kontext von Fatigue, Entzündung und Darm-Hirn-Achse.


3. Energie für Mitochondrien und Gehirn

Butyrat und Propionat liefern Energie – nicht nur lokal im Darm, sondern auch systemisch:

  • Beide SCFAs fördern die ATP-Produktion in den Mitochondrien.
  • Propionat wirkt zusätzlich über den Citratzyklus als Energiequelle für Leber und Muskeln.
  • Sie regulieren die mitochondriale Biogenese über PGC-1α und verbessern die zelluläre Stressresistenz.

Da Fatigue bei MS häufig mit Mitochondriendysfunktionen verbunden ist, können SCFAs hier einen stabilisierenden Effekt haben.


4. Entzündungsregulation und Neuroprotektion

SCFAs, insbesondere Butyrat und Propionat, wirken antientzündlich:

  • Aktivierung regulatorischer T-Zellen (Tregs)
  • Hemmung von IL-6, TNF-α und NF-κB
  • Förderung neuroprotektiver Mechanismen über HDAC-Inhibition
  • Stabilisierung der Blut-Hirn-Schranke (BBB) und Verringerung neuroinflammatorischer Prozesse

Somit wirken SCFAs gleich auf mehreren Ebenen – im Darm, im Immunsystem und im zentralen Nervensystem.


5. Der Darm als Stressregulator – Vagusnerv und SCFAs

SCFAs kommunizieren mit dem Gehirn über:

  • den Vagusnerv,
  • die endokrinen Stressachsen,
  • und direkte metabolische Signalwege.

Propionat und Butyrat können vagale Afferenzen aktivieren, was beruhigend auf das Nervensystem wirkt und die Parasympathikusaktivität fördert. So entsteht eine wechselseitige Regulation zwischen Darmmikrobiota und HPA-Achse – ein Schlüsselmechanismus für Resilienz und Erholung bei MS-Fatigue.


6. Praktische Empfehlungen zur Förderung der SCFA-Bildung

Ernährung

  • Ballaststoffreich essen: Gemüse, Hülsenfrüchte, Hafer, Flohsamenschalen, Leinsamen
  • Präbiotische Lebensmittel: Chicorée, Topinambur, grüne Bananen, Zwiebeln
  • Resistente Stärke (z. B. abgekühlte Kartoffeln oder Reis)

Präbiotika & Probiotika

  • PHGG (partiell hydrolysierte Guarbohne), Inulin, Resistente Stärke Typ 3 fördern Butyrat- und Propionatbildner
  • Probiotika mit Clostridium butyricum, Bifidobacterium adolescentis oder Eubacterium hallii steigern SCFA-Produktion


SUPPLEMENTE

  • Propionsäurepräparate (z. B. Natriumpropionat 500–1000 mg/Tag) können gezielt immunmodulierend wirken
  • Butyratpräparate unterstützen die Regeneration der Darmschleimhaut

Therapeutisch kann es sinnvoll sein, zunächst das Mikrobiom zu stabilisieren, bevor gezielte SCFA-Gaben erfolgen.



Kurzkettige Fettsäuren – vor allem Butyrat und Propionat – sind entscheidende Regulatoren der Darm-Hirn-Achse. Sie unterstützen die Stressregulation über die HPA-Achse, wirken entzündungshemmend, fördern Toleranz im Immunsystem und stabilisieren die Energieproduktion in den Mitochondrien.

Für Menschen mit MS-Fatigue bedeutet das:
Eine ballaststoffreiche, mikrobiomfreundliche Ernährung und ggf. propionsäurebasierte Begleittherapie können den Weg zu mehr Energie, Stabilität und Lebensqualität unterstützen.



Hinweis:
Dieser Artikel ersetzt keine medizinische Beratung. Änderungen in Ernährung oder Supplementierung sollten therapeutisch begleitet werden – insbesondere bei bestehender MS-Therapie.